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Transformation

12. Juli  —  31. August 2024

Zyklus «Wandel II» 2023 — 2025

 

Wir befinden uns in einer Zeit des Wandels. Unsere Organisation hat es sich zum Ziel gesetzt, das Festival ressourcenschonender und nachhaltiger durchzuführen und damit für die Zukunft aufzustellen. Mit diesem Projekt, das wir «Mission Menuhin» nennen, steigen wir mit grosser Freude ins zweite Jahr unseres dreijährigen «Wandel»-Zyklus ein. 

Transformation. Die Menschheit befindet sich ständig in Prozessen der Transformation, denn sonst würden wir noch heute in Höhlen hausen. Aber der Begriff «Transformation» wird heute, in den Jahren 2023 und 2024, nahezu inflationär verwendet: Im aktuellen deutschen Koalitionsvertrag findet sich das Wort ganze zweiundvierzig Mal aufgeführt. Die Energiewende ist eine technische Transformation unfassbaren Ausmasses, die Digitalisierung hat innerhalb weniger Jahre aus einer analogen eine digitale Gesellschaft geformt. Gesellschaftliche Werte verändern sich rasant, und alles, was sich verändern soll, muss transformiert werden. Festhalten am Alten bedeutet Stagnation. Innovationen sind gefragt. Durch die ständige Suche nach Unbekanntem befindet sich die Kulturszene seit Anbeginn in einem nicht aufzuhaltenden Veränderungsprozess. Der Mensch entwickelt Kultur von Generation zu Generation weiter und beleuchtet damit seine eigene Umgebung ständig neu. Gleichzeitig braucht es Mut, Neues zu gestalten, sich immer wieder auszuprobieren. Um Relevanz zu bewahren, müssen wir eine gewisse Konsequenz und Radikalität im künstlerischen Ausdruck zeigen. Wir brauchen neue Konzertformen, neue Formate, neue Ausdrucksweisen, neue musikalische Sprachen, um mit unserem kulturellen Auftrag breitenwirksam zu handeln und dabei immer wieder neue Menschen anzusprechen … 

Transformation setzt Kräfte frei, vorhandene Energien werden umgewandelt und als neuer Ausdruck genutzt. Die aus Transformation gewonnene Energie ist das einzige Element, welches die Beschleunigung des Klimawandels zurückstufen kann, begleitet durch den Gewinn von neuen, ressourcenschonenden Energien. Auch transformative Prozesse inmitten unserer Gesellschaft gehen damit einher: veränderte Formen der Lebenshaltung, neue Werte, Umdenken, neue Positionierung, Verschiebung der Lebensinhalte, das Aufkommen einer neuen Generation, der Generation Z (1995 – 2010), welche grundlegend andere Positionen in Bezug auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz bezieht und dafür mit Bewegungen wie «Fridays for Future» weltweit auf die Strassen zieht. 

«Trans» ist eine lateinische Präposition und bedeutet «hinüber, jenseits»: vom einen Ort zum anderen (Trans-port), vom einen Zustand in den nächsten (Trans-formation). Auch in der Natur begleiten Transmissionen den Weg vom Irdischen hinüber ins Überirdische, oder gar Jenseitige (Trans-zendenz). Werte und Wissen werden von einer Generation zur nächsten weitervermittelt (Trans-mission), enge Verbindungen und der Austausch zwischen Kulturen lassen die Übertragung von Sprache zu (Trans-lation), usw … 

Diese transformatorischen Energien in musikalische Zusammenhänge zu stellen haben wir uns für die 68. Edition von Gstaad Menuhin Festival & Academy zum Ziel gesetzt. Dabei gruppieren wir die Konzerte in drei Themengebiete, womit das gesamte Programm auf drei unterschiedlichen Ebenen verläuft: «Trans-zendenz», «Trans-Mission» und «Trans-Classics». 

Musik hat grundsätzlich eine starke metaphysische Wirkung und schwebt in ihrem Ausdruck zwischen Irdischem und Überirdischem, zwischen sinnlicher Empfindung und Zugang zu formlosen Traumwelten. Die Transzendenz eines tragischen Moments durch die Liebe ist Inhalt und Idee des Gedichts «Verklärte Nacht» von Richard Dehmel, welches Arnold Schönberg 1899 seinem gleichnamigen Streichsextett zu Grunde legte. Das Transzendente der Poesie in Schuberts Klavierlied und die Lyrik in seinen Messevertonungen fügt sich in seiner Messe Nr. 5 As-Dur aufs Schönste zusammen. Aus Richard Strauss’ «Metamorphosen» klingt eine transzendente, von aller Äusserlichkeiten befreite Musik, die von tiefer Betroffenheit zeugt, welche Strauss nach dem Anblick seiner zerbombten Heimatstadt München 1946 so schwer belastet hat. Wenige Opernwerke kreisen so intensiv um die Sehnsucht nach Transzendenz wie Wagners «Tristan». Liebestod und Transzendenz als einziger Weg zur Vereinigung der Liebenden und die Verherrlichung der Nacht als geheimnisvolle metaphysische Heimat: Friedrich Nietzsche nannte «Tristan und Isolde» gar das «eigentliche opus metaphysicum aller Künste». In Gustav Mahlers Sinfonie Nr. 1 ist der Grundgedanke die Idee der Transzendenz des Elends. In Anspielung auf ein Werk von Jean Paul trägt sie den Beinamen «Titan». Nach den ersten beiden Sätzen folgt ein Trauermarsch auf das Elend und den Jammer der Welt. Das Finale beginnt als «der plötzliche Ausbruch eines im tiefsten verwundeten Herzens» (Zitat Mahler). Anders als Goethes «Werther» schliesst das Finale mit einer Apotheose. Bei der Aufführung in Weimar erhielt der Choralsatz den Titel «Dall’ Inferno al Paradiso». 

Bei Gustav Holsts «Die Planeten» geht es um transzendente Sphärenmusik: Inhaltlich skizziert die Planetensuite die Entwicklung eines Menschen vom Jugend- bis zum Greisenalter, der, nachdem er sein menschliches Leben verlassen hat, in eine neue mystische Ebene aufsteigt. Während dieser Reise durchläuft er bestimmte Entwicklungsstadien seiner Persönlichkeit, die durch die einzelnen Planetensätze dargestellt werden. Diese Planetensätze zeigen die gesamte Palette menschlicher Persönlichkeit auf – angefangen bei Mars als Synonym der Rebellion, Jugend und Aggression, bis hin zu Neptun, der die metaphysische Klarheit und Ruhe darstellt (Quelle: Vgl. Greene, Richard. Holst: The Planets. Cambridge University Press, 1995). Die sieben Sätze der Komposition stellen die Vertonung einer menschlichen Seelenreise dar, die dem persönlichen Reifungsprozess des eigenen Selbst dient und mit dem Aufstieg der Seele in eine höhere Bewusstseinsebene endet, transzendiert. 

Wir beschäftigen uns auf einer eigenen Ebene mit dem Aspekt der «Trans-Mission»: Das Weiterreichen und Übertragen von Wissen, das Vermitteln von Weisheit und Erfahrung von einer Generation zur nächsten, von Idolen auf deren Anbetenden, von Lehrenden auf Schüler*innen, von Eltern auf Kinder, ist immer auch mit Wandel, Veränderung und Neuorientierung verbunden. Was wir seit vielen Jahren im Geiste des Festivalgründers Yehudi Menuhin in unseren Akademien leben und praktizieren, thematisieren wir nun auch in einigen Programmen: Sei es Mozart, der in seinen an Haydn gewidmeten Quartetten sein Idol ehrt, sei es die Verarbeitung Bruckners von der durch Wagner geprägten Harmonik und musikalischen Gesten in seiner 7. Sinfonie, sei es das Zeichnen des Portraits der vergessenen ersten solistisch tätigen Cellistin des 19. Jahrhunderts Lisa Cristiani oder die Premieren der Komponistinnen Emilie Mayer oder Fanny Hensel: Transmission wird hier im Sinne der Bewahrung und Weiterverbreitung musikalischer Werte und Werke verstanden und im Zeichen der ständigen Transformation des gesellschaftlichen Umfeldes im Heute betrachtet und erkennbar gemacht. 

Schliesslich gelangen wir mit der Reihe «Trans-Classics» zur Ebene der Aufführungs- und Konzertformen: Ich wage die These in den Raum zu stellen, dass es in 10 Jahren keine reinen Klassikfestivals mehr geben wird. Wenn es um den nicht digitalen Rahmen geht, werden auch in physischen Darbietungsformen Transformationen stattfinden – insbesondere, wenn es um eine Reinform des Analogen geht: dem Konzert. Wurden in der Barockzeit und der Klassik noch während den Konzerten freimütig getrunken, gegessen, gesprochen und gerülpst, gar getanzt oder geliebt, hat sich mit dem Biedermeier und der Zeit der Romantik durch das aufkommende Bildungsbürgertum eine Konzertform etabliert, deren Rituale bis heute prägend sind: Kleiderordnung bei Musizierenden, aber auch beim Publikum, Applaus nur zu gegebenen Momenten im Konzertablauf, Einlass/Auslass genau nach vorgeschriebenem Plan. Doch Klassikveranstalter haben glücklicherweise erkannt, dass neue Publikumsschichten und nachrückende Generationen andere Ansprüche an das Live-Erlebnis haben als solche, die noch bis vor kurzem galten: Sie wollen durch Musik gestreichelt, angeregt, herausgefordert, aber auch unterhalten werden. Die Klassikwelt geht zurzeit durch eine Phase des Umbruchs. Um Menschen anzusprechen und langfristig abzuholen braucht es einen Wandel und Transformationen von Konzertformen. Für das klassische Konzertformat genügt es nicht mehr, den immergleichen Mustern und Routinen zu folgen: Instrumente werden nicht mehr bloss in der Musik einer Epoche oder eines Genres eingesetzt, sondern überschreiten Grenzen oder wandeln sich innerhalb der Programme. Programmstile und Aufführungsformen transformieren sich. Die Grenze zwischen «E»- und «U»-Musik wird fliessend. Es wird immer weniger «reine» Klassik-Konzerte mehr geben: Die Szene braucht eine Öffnung und den Charakter von Niederschwelligkeit und Breitenwirksamkeit. 

Musikerinnen und Musiker zeigen diesen Wandel in kreativen Programmverläufen und Programmkonstellationen, mischen Genres, Stile, Epochen und gehen neue Wege in Ausdrucksformen und Interpretation. Wenn ein Lautenist und eine Sopranistin im selben Programm John Dowland, Henry Purcell und Bob Dylan spielen und singen oder ein Gitarrist mit Barockorchester-Begleitung Vivaldi und Bach mit Songs von Beatles kombiniert, kann dies als immersives Konzerterlebnis betrachtet werden. Wenn Breakdancer zu Mozart tanzen, empfinden wir dies als spannend und innovativ, als ein Konzertformat mit Erlebniswert. Wenn ein klassisches Streichquartett nach Schostakowitsch eine Konzerthälfte auf Jazz- und Pop-Standards frei improvisiert und der Abend mit einer DJ-Party abgeschlossen wird oder letztendlich Dvoraks böhmische Volksmusik in seinen Sinfonien verarbeitet, sind dies transformative Prozesse, die mit konsequenter Auflösung überholter Barrieren einhergehen. 

Wie stellen wir die Konzerte der Reihe «Music for the Planet» in den Zusammenhang der Transformation? Venedig, Stadt der Sehnsucht und der Träume, Stadt grosser vergangener Musik, doch gleichzeitig bedeutet sie den Tod als Ort der Heimsuchungen, der Versunkenheit in Mächte, die sich nicht kontrollieren lassen. Anastasia Kobekina meditiert in ihrer Venezia-Hommage in vergangenen und neuen Tönen über Traumbilder und den grossen Topos der Vergänglichkeit dieser Lagunenstadt, deren Tage durch den Meeresspiegelanstieg in Frage gestellt sind. 

In Patricia Kopatchinskajas «Zeit und Ewigkeit» geht es um Etappen des Umbruchs, Momente katastrophaler kriegerischer Ereignisse und ihrer Folgen, aber auch um Hoffnung. Karl Amadeus Hartmann komponierte im Jahre 1939 sein Concerto funebre aus Empörung und Verzweiflung über die Gräuel des Nazistaates, welche die europäische Zivilisation mit dem Untergang bedrohten. Das Concerto funebre kann als Passion verstanden werden, Passion als Aussage, was Menschen und allen Geschöpfen, der Schöpfung selbst und damit dem Schöpfer (Gott?) angetan wurde und wird. Frank Martin hat in Polyptyque (ein Violinkonzert, welches er 1973 für Yehudi Menuhin schrieb) die Passion Christi nach Bildern von Duccio di Buoninsegna (ca. 1255 – 1319) vertont, die auf der Rückseite des berühmten Altars Maestà in Siena zu finden sind. Frank Martin sah sich inspiriert von jener Passionsgeschichte, die erzählt, dass Gott im Elend des Zeitlichen mitleidet. Nach dem christlichen Glauben ist sein Leiden die Erlösung ins Ewige – eine Hoffnung in jeder bedrohlichen Zeit des Umbruchs, auch jener des Klimawandels? 

Was bewegt die Veränderung, der Wandel, die Transformation in mir selbst, in uns allen? Wandelnd zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und individuellem Leben, zwischen Pessimismus und Hoffnung, bieten wir mit der Festivaledition 2024 zahlreiche Gelegenheiten, uns diese Fragen gemeinsam zu stellen. Im Umfeld von Musik, die mit all ihren Emotionen, Stimmungen und den thematischen Bezügen von jedem Individuum unterschiedlich empfunden und verarbeitet wird, finden sich mehr Zeit und Raum, um über diese grossen Fragen nachzudenken, als im hektischen Alltag. 

Inspiriert durch das Programm des 68. Gstaad Menuhin Festivals freuen wir uns, gemeinsam mit unserem Publikum einen transformierenden, energiespendenden, lustvollen und vergnüglichen Konzertsommer vom 12. Juli bis zum 31. August 2024 zu verbringen. 

Feurig und voller Vorfreude grüsse ich Sie, 
Christoph Müller
Artistic Director, Gstaad Menuhin Festival & Academy