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Transformation

12. Juli  —  31. August 2024

Zyklus «Wandel II» 2023 — 2025

Vollkommenheit

Wann ist eine Komposition vollkommen? Zu welchem Zeitpunkt in seiner Lebensphase fühlt ein Komponist, dass er vollkommene Werke schreibt? Streben wir nicht in unserem eigenen Leben ständig nach Vollkommenheit, vielleicht nach vollkommenem Glück? Streben unsere Sponsoren nach dem vollkommenen Produkt und übertreffen dieses in ihrer Entwicklung doch immer wieder von neuem? 
Während die Vollkommenheit in der Kunst als ein in sich geschlossenes und geordnetes, und daher schönes Ganzes gesehen wird, ist in der Wirtschaft und der kommerziellen Welt die Vollkommenheit doch immer an Fortschritt und Entwicklung gebunden. Bei einem Klassik-Festival soll und darf ruhig auf diese zwei Anwendungen des Vollkommenheits-Gedankens hingewiesen werden. 
  

Der Begriff der "Vollkommenheit" bedeutete bis in das 18. Jahrhundert die "Harmonie als göttliche Ordnung". Sie machte auf die Analogie zwischen Ordnung der Naturwelt und dem mythologischen Ursprung der Künste aufmerksam und malte die Vorstellung aus, dass sich bestimmte Zahlenverhältnisse in Musik und Tanz ihre Entsprechungen im Makrokosmos und in der Seele des Menschen spiegeln.   
Mit der Aufklärung manifestierte sich im 18. Jahrhundert die Beziehung zwischen Fortschritt und Vollkommenheit, die sich u.a. auch in der Sonatenform von Sinfonien und Kammermusikwerken widerspiegeln sollte. Nach den Schrecken totalitärer Kriege haben wir in der Postmoderne ein differenziertes wie heterogenes Bild von Fortschritt und Vollkommenheit...                                             
Zahlreiche Komponisten haben in ihren letzten Lebensjahren ihre bedeutendsten Werke geschrieben. Schuberts Meisterwerke der Kammermusik entstanden in seiner Spätphase, gar in den letzten Monaten seines Lebens. Beethovens späte Quartette gehören zum Grossartigsten der Musikgeschichte. Bachs Kompositionen gehören zum Vollkommendsten der gesamten abendländischen Kultur. Viele von ihnen haben sich in ihren letzten Werken von früheren Formen und Kompositionsmustern gelöst und ihre persönliche Sprache noch geschärft und akzentuiert.  
Der Gedanke der "Vollkommenheit" in der Musik regt uns während dem Festival 2009 an, auch über die Vollkommenheit in unserem alltäglichen Leben am Anfang des 21. Jahrhunderts nachzudenken, zu sinnieren. Ein Komponist strebte in jedem seiner Werke nach Vollkommenheit und viele glaubten, diese nie erreicht zu haben, hinterliessen uns aber nach deren Tod die grössten und schönsten Meisterwerke. Schubert oder Tschajkowski bezeichneten immer die jeweils jüngst geschriebenen Werke als ihre besten und erreichten mit jedem neuen Werk einen weiteren Schritt in Richtung dieser Vollkommenheit, ohne je zu glauben, diese erreicht zu haben. Das Streben nach Vollkommenheit ist ein Antrieb für alle kreativen Menschen, noch tiefer zum Sinn ihrer Tätigkeit vorzustossen, noch nachhaltigere Werke zu schaffen und noch mehr Ausdrucksformen ihrer Kunst zu finden. Befinden sich nicht die Erbauer eines Uhrwerkes oder eines Automotors in einer ähnlichen Ausgangslage wie ein Komponist, sind davon angespornt, immer noch perfektere und ausgefeiltere Werke zu schaffen? Die Vollkommenheit ist demnach auch eine grosse Unbekannte, die zu erreichen Stillstand bedeuten würde. 
Das Element der "vollkommenen Kunstausübung", der virtuosen Sänger und Instrumentalisten, soll beim Festival 2009 ebenfalls gewichtet werden. Unsere eingeladenen Künstlerpersönlichkeiten zeichnen sich durch brillante und unverkennbare Spielweise oder Gesangskunst aus, welche in der Vollkommenheit Einzigartiges erreicht!  Vollkommene Werke wie Bachs h-moll-Messe, über die Franz Liszt schrieb, sie sei wie der "Montblanc der Kirchenmusik", seine Goldbergvariationen, seine "Kunst der Fuge", Brahms' Klarinettenquintett, Beethoven's letzte Streichquartette, Haydns späte Sinfonien, Mozarts sinfonische Spätwerke, Bruckners 9. Sinfonie, Tschajkowski's 5. Sinfonie oder Haydns "Schöpfung" bilden den programmatischen roten Faden durch das Vollkommenheits-Thema.    

Christoph Müller, künstlerischer Leiter