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12. Juli  —  31. August 2024

Zyklus «Wandel II» 2023 — 2025

 

Beethoven wurde 1772 im holländischen Zutphen geboren. Wir feiern im Jahr 2022 seinen 250. Geburtstag. Gstaad Menuhin Festival & Academy ist das einzige Festival weltweit, welches das richtige Geburtsjahr feiert. Wie bitte? Fake News? 

Tatsächlich gibt es Hinweise, dass Beethovens Eltern im Jahr 1772 mit einer Musikgesellschaft im holländischen Zutphen weilten und damals ein Ludwig im französischen Gutshof der Stadt geboren wurde. Dies berichtet der Direktor des städtischen Museums, Jurn Buisman, welcher die Geschichte auch auf der Homepage seiner Institution (https://geelvinck.nl/) präsentiert, gegenüber der Zeitung «De Volkskrant». Die Spekulationen rund um Beethovens Geburtsjahr sind nicht neu und blühten schon kurz nach seinem Tod auf. Gemäss dem Bonner General-Anzeiger aus dem Jahre 2017 äusserte bereits um das Jahr 1835 herum ein gewisser Herr van Marwijk Zweifel am Geburtsjahr 1770 und dem Geburtsort Bonn und behauptet, dass Beethoven 1772 im Gasthaus «De Fransche tuin» in Zutphen geboren sei – eine These, die von renommierten Beethoven-Forschenden stark bezweifelt wird. Wenn es um Fragen in Sachen Beethoven geht, gilt die Institution Beethoven-Haus Bonn als massgebliche Instanz. Auch die dortige Forschungsabteilung zweifelt das Geburtsjahr 1772 an, sei der Taufeintrag vom 17. Dezember 1770 in Bonn doch unmissverständlich. Die Verfechter der 1772-Version stellen diesem Argument jedoch gegenüber, dass Beethoven noch einen älteren, früh verstorbenen Bruder gehabt hätte, dessen Taufeintrag mit jenem Ludwigs verwechselt werde. Und last but not least, auch Beethoven selbst schien anzunehmen, dass er im Jahr 1772 geboren wurde, da sein Vater ihn mit dreizehn Jahren als «elfjähriges Wunderkind» auftreten liess. Oder irrte er sich in seiner Altersangabe im Jahre 1802 in seinem Heiligenstädter Testament um einige Jahre? 

Se non è vero, è ben trovato. Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden. Schliesslich ist unsere 2020-Edition rund um «Wien» mit Schwerpunkt Beethoven der COVID-19-Pandemie zum Opfer gefallen. Da ist es für uns eine tröstende Hand, die sich uns hier für eine inhaltliche Legitimation eines verspäteten Beethoven-Jubiläums anbietet. Jedoch, und dies betonte Sir András Schiff anlässlich seines gefeierten Beethoven-Recitals im Rahmen des Pop-up-Festival 2020 by Gstaad Menuhin Festival, braucht Beethoven keine runden Geburtstage, um gefeiert zu werden. Beethoven ist die Substanz, die Krönung und Vollendung der Wiener Klassik insgesamt und bildet das Rückgrat eines jeden Klassikfestivals. 

Fake News in der Welt der Musik sind nichts Neues: Wunderkinder werden jünger gemacht als sie sind, rund um das Alter vieler Sängerinnen und Sänger werden haarsträubende Theorien gesponnen, Urheberrechte werden mit Füssen getreten, Komponistinnen und Komponisten bedienen sich bei Mitstreitenden, um nur einige Beispiele zu nennen. Wir schmunzeln über die Zutphen-Theorie und erfreuen uns an dem, was letztlich zählt. Entscheidend für uns ist die Substanz der Musik und unser Kerngeschäft: die Aufführung derselben durch gewichtige und hochkarätige Interpretationen. 

Als die ganze Welt im Jahr 2020 den 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven feierte, stand auch die Stadt seines Wirkens im Fokus: Wien. Hier wurde er ausgebildet, inspiriert und animiert durch Vorbilder und Konzerteindrücke. Hier wurde er durch das Mäzenatentum gefördert, bis er 1827 im Alter von 56 Jahren in der Kulturmetropole verstarb. 

Die seit dem Barock bestehende und nachweisbare Verbindung von Wien mit hochstehender Musikkultur bezog sich jedoch vorerst weitestgehend auf die höfische, adlige Gesellschaft und erst ab dem Biedermeier auch auf den bürgerlichen Musikkonsum. Heute verdankt die Stadt ihren Ruf einem weltweit einzigartigen Musikangebot in allen Genres und Gattungen. Der Kulturtourismus floriert in Wien wie nirgendwo sonst. Die Stadt gilt Metropolen weltweit als Vorbild, wie Musikgeschichte und Gegenwart wirksam miteinander verbunden und vermarktet werden können. 

Dass Wien im Laufe der Epochen zur Welthauptstadt der Musik aufstieg, als die sie heute nicht nur in Hochglanzmagazinen der Tourismusindustrie gepriesen wird, sondern auch in unseren Tagen diesen Ruf durch ihr einzigartig reiches, vielfältiges und hochkarätiges Musik-Angebot täglich unter Beweis stellt, haben wir der Musik- und Kulturpflege der Habsburger im 17. und 18. Jahrhundert zu verdanken. Die Habsburger beherrschten weite Teile Europas und verstanden sich auch als kulturelles Zentrum der Welt. Die Musik diente ihnen als Machtdemonstration und als Mittel zum Ausdruck von Repräsentation und Glanz des Kaiserhofs in Wien. Während andere europäische Höfe eher auf Architektur als Ausdruck der Macht setzten (Versailles!), investierten die Habsburger früh in die Ausdruckskraft der Musik. Sie holten viele Komponistinnen wie Komponisten nach Wien und finanzierten deren Lebensunterhalt sowie deren Orchester und Kapellen. Einige Mitglieder der königlichen Familie betätigten sich gar selbst als Musiker: Kaiserin Maria Theresia etwa als Sängerin bei Hofe, oder Kaiser Joseph II, der ein engagierter Cellist und Kammermusiker war. Vom kaiserlichen Hof in den 1750-er bis 70-er Jahre angestellte oder häufig mit Aufträgen versehene Komponisten wie Johann Joseph Fux, Georg Christoph Wagenseil, Johann Baptist Vanhal oder Matthias Georg Monn begründeten dann auch den Stil der «Frühen Wiener Klassik». An der Wiener Hofoper, dem Opernhaus des Kaiserhauses und der Vorgängerin der heutigen Wiener Staatsoper wirkten seit den 1760-er Jahren Komponisten wie Gluck und Salieri, aber auch Mozart. Einen besonderen Erfolg hatte zu dieser Zeit die Opera buffa, die mit ihrem Witz und Esprit auch auf die Instrumentalmusik, besonders die des bereits reifen Haydn und des ab 1782 für die Hofoper komponierenden Mozarts, einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausübte. 

Etwa mit dem Beginn der Wiener Klassik fällt die 1771 erfolgte Gründung der Tonkünstler-Sozietät zusammen, die in Wien erstmals «öffentliche» Konzerte veranstaltete, die jedoch in erster Linie von der aristokratischen und gehobenen bürgerlichen Gesellschaft Wiens besucht wurden. 

Ein Bild der stimulierenden Atmosphäre im Wien während dieser Jahre des Aufbruchs vermittelt eine Tagebuchnotiz des Sängers Michael Kelly, der einem Hauskonzert bei den Engländern Anna Celina Storace und ihrem Bruder Stephen Storace im Jahre 1784 beiwohnt und berichtet: 

Storace gab einen Quartett-Abend für seine Freunde. Die Spieler waren akzeptabel; nicht einer von ihnen war überragend, aber es war ein wenig Wissenschaft unter ihnen, welche, wage ich zu sagen, offensichtlich sein wird, wenn ich ihre Namen nenne:

Die erste Violine: Haydn
die zweite Violine: Baron Dittersdorf
das Violoncello: Vanhal
die Viola: Mozart
Ich war dort, und ein grösseres Vergnügen, oder ein bemerkenswerteres, kann man sich nicht vorstellen.
 

Zwar berichtet Kelly nicht, was die vier Musiker gespielt haben, aber es ist davon auszugehen, dass sie Ausschnitte aus eigenen Werken zum Besten gaben. Wie muss ein solcher Austausch auf die vier kreativen Köpfe gewirkt haben! War dieser Abend vielleicht ein Schlüsselmoment für die Initialisierung der Epoche der Wiener Klassik? Wie muss die Begegnung für Haydn gewirkt haben, der schon drei Jahre zuvor gegenüber Vater Leopold Mozart äusserte: «Ich sage ihnen vor Gott, als ein ehrlicher Mann, ihr Sohn ist der grösste Componist, den ich von Person und den Nahmen nach kenne: er hat Geschmack, und über das die grösste Compositionswissenschaft» (Haydn 1781 an Leopold Mozart). 

Mozart, endlich von den Salzburger Fesseln befreit, lebte seit dem Jahr 1781 bereits als freischaffender Komponist in Wien, musste sich aber um Aufträge bemühen. Dennoch waren die Wiener Jahre die wohl ergiebigsten und glücklichsten Jahre des Genies. 1782 heiratete er Constanze Weber. Im selben Jahr kam das von Joseph II in Auftrag gegebene Singspiel Die Entführung aus dem Serail an der Wiener Hofoper zur Uraufführung. In den folgenden Wiener Jahren schuf Mozart die grossen Klavierkonzerte, die Messen, die späten Sinfonien, Streichquartette, die Kleine Nachtmusik und vor allem den Da-Ponte-Opern-Zyklus mit Nozze di Figaro, Così fan tutte und Don Giovanni, sowie 1791 das Requiem und Die Zauberflöte

Haydn gilt zwar als «Erfinder» der Sinfonie in der klassischen viersätzigen Form und als derjenige, der nahezu im Alleingang das Streichquartett zu seiner Bedeutung erhoben hat, gleichzeitig aber auch als Wegbereiter der Romantik. Dass Haydn nicht nur ein genialer, unendlich kreativer und sinnlicher Tonsetzer war, sondern auch ein Vermittler, Förderer und Türöffner, heute würde man sagen, ein Netzwerker, zeigt seine Kontaktpflege zum Hause Mozart und zum jungen Beethoven. Haydn, im Spätbarock 1732 geboren und in der Frühromantik 1809 gestorben, deckte eine beeindruckende Zeitspanne zwischen drei Epochen ab. Sein Einfluss auf die Genies der Klassik und Romantik und überhaupt auf das gesamte Wiener Musikleben des 18. Jahrhunderts scheint unermesslich. Rund 40 Kilometer ausserhalb der Musikhauptstadt Wien, am Hofe Esterhazy in Eisenstadt, lebte und arbeitete Haydn seit 1761 bis in die 90-er Jahre in Diensten des Fürsten Paul II. Anton Esterházy und definierte in der Abgeschiedenheit die Musik des 18. Jahrhunderts neu. Vor allem aber schaffte es Haydn, Respekt, Reputation und Anerkennung aller Musizierenden der kommenden Generationen zu gewinnen und zum wohl bekanntesten Komponisten der Zeit zu werden. 

Ein junger 22-jähriger Pianist aus Bonn kreuzte im Jahre 1792 den Lebensweg des grossen Meisters: Im Juli 1792 luden Bonner Musiker den durchreisenden Haydn (der sich auf seiner ersten London-Reise befand) zu einem Frühstück in die Godesberger Redoute ein und brachten ihn mit Beethoven zusammen. Haydn erkennt sofort das Genie des jungen Beethoven und lädt ihn daraufhin nach Wien ein, um bei ihm zu studieren. Der bei der Begegnung ebenfalls anwesende Kurfürst von Köln, Maximilian Franz, ist bereit, die bereits fliessenden Fördergelder an Beethoven vorläufig weiter zu bezahlen, auch wenn dieser fortan in Wien wirkt. 

Haydn führt den jungen Beethoven in den Jahren 1792 bis 1795 in das Wiener Musikleben ein, er vermittelt ihn zu Mäzenen und Förderern wie Baron Gottfried van Swieten oder Fürst Karl Lichnowsky, veranstaltet Konzerte, bei denen Beethoven als Pianist auftrat und Werke präsentierte (sogenannte «Akademien») und war sogar darum besorgt, dass das junge Genie Beethoven genügend Geld zum Leben hatte. Das Leben in Wien war schlichtweg teurer als man dies in Bonn eingeschätzt hatte. So fügte Haydn wohl selbst noch einige Taler als Leihgabe hinzu, wie der folgende Brief an den Kurfürsten Max Franz (Beethovens Förderer in Bonn) zum Ausdruck bringt: 

Wien, 23. November 1793Euer Kurfürstliche Durchlaucht … Kenner und Nichtkenner müssen eingestehen, dass Beethoven … einer der grössten Tonkünstler [sein] werde und ich werde stolz sein, mich seinen Meister nennen zu können; nur wünscht ich, dass er noch geraume Zeit bei mir verbleiben dürfe …
… so erlauben Eure Kurfürstliche Durchlaucht, dass ich auch ein paar Worte von seinen ökonomischen Angelegenheiten sagen darf. Für das verflossene Jahr waren ihm 100 Taler angewiesen.
Dass diese Summe nicht hinreichend war, auch nur bloss um zu leben, davon sind E.D. wohl selbst überzeugt; indessen mögen HDS [Hochdieselben = Eure Durchlaucht] Ihre guten Ursachen gehabt haben, ihn mit einer so geringen Summe in die Welt zu schicken …ich habe ihm soviel vorgestreckt, dass er mir 500 Gulden schuldig ist, wovon kein Kreuzer ohne Notwendigkeit verwendet worden ist …Josef Haydn
 

Beethoven vereinte in seinem frühen Werk Einflüsse von Haydn und Mozart, wie es auch sein Gönner Graf Ferdinand Ernst Gabriel von Waldstein in einem Zitat an ihn formulierte: «Durch ununterbrochenen Fleiss erhalten Sie: Mozarts Geist aus Haydns Händen.» 

Nun ist Beethoven in Wien definitiv angekommen. Er komponierte während der ersten zehn Wiener Jahren, 1792 bis 1802, alleine 20 der 32 Klaviersonaten, zahlreiche kammermusikalische Werke, seine ersten beiden Klavierkonzerte und einige Sinfonien. Sein wachsender Erfolg als Pianist und Komponist wurde von einer schwerwiegenden Beeinträchtigung überschattet: Etwa um 1798 zeigten sich erste Symptome jenes Gehörleidens, das schliesslich zur Taubheit führen sollte. 

Beethovens Gehörleiden stellte nicht nur eine ernste Bedrohung seiner Laufbahn als Musiker dar; es beeinträchtigte auch seinen gesellschaftlichen Umgang. Die Krankheit stürzte Beethoven in eine schwere persönliche Krise, die ihn zeitweilig sogar an Selbstmord denken liess. Beethoven offenbarte seinen Seelenzustand im sogenannten «Heiligenstädter Testament», einem Schriftstück, das er im Oktober 1802 am Ende einer Kur in Heiligenstadt verfasste, nachdem auch diese ohne den erhofften Erfolg geblieben war. Dennoch folgten nun, ab 1802 bis 1812, die ergiebigsten Jahre, in welchen er alleine sechs seiner neun Sinfonien schuf, seine erste Fassung des Fidelio schrieb, die Klavierkonzerte Nr. 3, 4 und 5, das Tripelkonzert, die Chorfantasie sowie die «mittleren» Streichquartette. Die zunehmende Taubheit (ab 1818 sind sogenannte «Konversationshefte» nachweisbar), unglückliche Verliebtheit (die er im Brief an eine «unsterbliche Geliebte» äusserte) und materielle Sorgen führten zu einer tiefen Krise, aus welcher er sich nur schleppend erholte. In diesen schweren Jahren entstanden vorwiegend kammermusikalische Meisterwerke wie die Hammerklavier-Sonate oder die beiden späten Cellosonaten. Die Missa solemnis war 1820 ursprünglich von seinem Schüler und Mäzen Erzherzog Rudolph in Auftrag gegeben worden. Beethoven hat das Werk aber erst 1822/23 fertig gestellt und sich von jeglicher Vorgabe des Auftraggebers gelöst. Gleichzeitig arbeitete er an den Diabelli-Variationen und hebelte auch hier die Vorgabe der Variationen durch ausufernde Kreativität und Inspiration aus. Zudem vervollständigte er die letzten drei Klaviersonaten. Ein letztes Aufbäumen seiner schöpferischen Kraft in den Jahren 1824 bis 1827 führte zum Entstehen einer Gruppe von fünf Streichquartetten, die im Streichquartett F-Dur op. 135 gipfelte, dem letzten Werk Beethovens, das er vollständig niederschrieb und wo er fern jeglicher Streichquartett-Konventionen nur noch abzuheben scheint von dieser Welt in Transzendenz ähnliche Zustände.  

Beethovens Musik stand für den Wandel der Zeit in Europa, die Befreiung des Individuums und des menschlichen Geistes. Mit seinen Schlüsselwerken leitete er in Wien die Epoche der Romantik ein, deren Wirkung rasch auch auf andere europäische Zentren überging. Die «Befreiungsoper» Fidelio und die Missa solemnis, sowie die Sinfonien Nr. 5 («Das Schicksal pocht an die Tür»), Nr. 6 («Pastorale») und Nr. 7 – allesamt zentrale Werke der Festivalausgabe 2022 – definieren Gattungen und Formen revolutionär neu. 

In der Oper Fidelio sah Beethoven die Möglichkeit, die gegen jede Tyrannei gerichteten Prinzipien der politischen Freiheit, der Gerechtigkeit und der Brüderlichkeit durch die Rettung eines unschuldigen Helden aus höchster Not zum Ausdruck zu bringen. Bei der Missa solemnis ist deutlich zu spüren, dass sie nicht mehr für die Kirche geschrieben worden ist. Es ist ein sehr persönliches Credo des Komponisten in Messe-Form, die losgelöst von jeder Form noch heute ein utopisches Werk zu sein scheint. Nirgends kehrt das Genie seine Persönlichkeit, seine Lebenssicht, sein Leiden so nach aussen wie in diesem Werk. 

Während Beethoven aufgrund seiner Taubheit in den 1820-er Jahren in Wien eher zurückgezogen lebte, hatte Franz Schubert in den sogenannten «Schubertiaden» eine Aufführungsform gefunden, welche in privatem Kreis, geschützt vom Metternichschen Polizeistaat mit dessen Zensur, seine Kammermusik und die Liedwerke zur Aufführung brachte. In diesen Privatkonzerten bei Schobers, Sonnleithners, Bruchmanns und anderen wurden unter anderem die Lieder uraufgeführt, die danach im Zyklus Die Winterreise veröffentlicht wurden. 

Schuberts Wirken spielte sich abseits des in Wien aufkommenden Biedermeiers ab (nach 1815 und dem Wiener Kongress). Das aufkommende Bürgertum pflegte zwar die Hausmusik, aber Schuberts Kompositionskunst liess sich nicht in dieses bürgerliche Korsett zwängen. Ähnlich wie Beethoven in den letzten Lebensjahren, schuf Schubert eine eigene musikalische Dimension, die nur noch in äusserlich herkömmlichen Bahnen verlief, künstlerisch jedoch der Zeit entrückt schien. 

In der Biedermeierzeit wandte sich das neue Bürgertum zunehmend den behaglichen Genussfreuden zu. Man besuchte Konzerte, hielt sich in Salons und Kaffeehäusern auf, begann sich für die Natur im Prater und dem Wienerwald zu interessieren. Die im Jahr 1812 gegründete Gesellschaft der Musikfreunde begann, selbst Konzerte zu veranstalten, zuerst in einem Saal an den Tuchlauben, später im 1870 eröffneten Wiener Musikverein. 1842 wurden die Wiener Philharmoniker gegründet. Die Wiener Staatsoper wurde 1868 eröffnet und war die Nachfolgeinstitution der kaiserlichen Hofoper. Später, anfangs 20. Jahrhundert, bauten die Wiener das Konzerthaus, das neben dem Musikverein bis heute das Hauptveranstaltungshaus klassischer Konzerte in Wien ist. Der Wiener Concertverein wurde 1900 gegründet und später in die Wiener Symphoniker umbenannt. Die Wiener Sängerknaben schliesslich bestanden zwar seit 1498 als kaiserliche Hofsängerknaben (Hofcapell-Singknaben), wurden dann in der Form der heutigen Sängerknaben im Jahr 1924 gegründet.  

Der Biedermeier war auch die Zeit des Walzers mit der Hochburg Wien. Er entstand aus dem meist im Freien getanzten Ländler. Zu den Tanzveranstaltungen strömten die Massen, war hier doch ausgelassene Fröhlichkeit erlaubt. Es waren Inseln der Glückseligkeit für die im strengen Metternichschen Bewachungsstaat gefangenen Wiener Menschen. Komponisten und Kapellmeister wurden teilweise gefeiert wie Stars, allen voran Johann Strauss Vater und Joseph Lanner

Der Wiener Walzer war in seiner Geschichte Ausdruck gehemmter politischer Umbruchsstimmungen und wurde beispielsweise als «Marseillaise des Herzens» (Eduard Hanslick) bezeichnet, er solle «Wien die Revolution erspart [haben]», während Johann Strauss selbst «Napoléon Autrichien» (Heinrich Laube) genannt wurde. Der auch als Walzer-König bezeichnete Johann Strauss Sohn ist bis heute das Gesicht der Operette und des Walzers, alljährlich zelebriert im Neujahrskonzert, das aus dem Wiener Musikverein gesendet und von Millionen von Menschen verfolgt wird. 

Musikalische Brüche dieser bereits im 19. Jahrhundert zur reinen Unterhaltungsindustrie verebbten Konzerttätigkeit waren vorauszusehen. Schon Anton Bruckner und Gustav Mahler sprengten die romantische Vorstellung von Sinfonie dermassen, dass sie in Wien kaum das breite Publikum erreichen konnten. Was aber die Vertreter der «Neuen Wiener Schule» um Arnold Schönberg und seine Schüler Alban Berg und Anton Webern zu Beginn der 20-er Jahre des 20. Jahrhunderts auftischten, war eine radikale Neudeutung der Tonkunst, in dem durch die Zwölftontechnik Musik eher konstruiert als komponiert wurde. 

Trotz dieser besonders für das Musikpublikum radikal erscheinenden Neuerungen sah sich die Wiener Schule in einer Traditionslinie von den Komponisten der Wiener Klassik über Johannes Brahms bis Gustav Mahler. 

Dass die Komponisten des 19. Jahrhunderts sich in Wien aber auch inspirieren liessen vom eigentlichen «Wiener Lied», den folkloristischen Liedern, die auf Strassen, in Kneipen, Salons gesungen wurden, zeigte sich vor allem im Operettenwerk von Franz Lanner, Johann Strauss (Sohn) oder Robert Stolz: Draussen in Sievering von Johann Strauss Sohn, Ich bin ein Wienerkind von Franz Lehár oder Im Prater blüh'n wieder die Bäume von Robert Stolz. Das Lied. Eine Wiener Kunstform? Wiener Komponisten, die in den Secessionsjahren um 1900 Lieder vertonten und Brüche zwischen den Epochen vorauszusehen schienen, führten das Genre weiter, unter anderem Alexander von Zemlinsky mit seinen Walzergesängen, Arnold Schönberg mit den Cabaret Songs oder später zwischen den Kriegen Erich Wolfgang Korngold mit seinem Sonett für Wien oder Erich Zeisl mit den Brettl-Liedern. Viele davon wirken doppelbödig, augenzwinkernd, tragisch und auch humoristisch. 

Überhaupt: Der Wiener Humor und dieser für Nicht-Wiener schwer verständliche Schmäh: Während wir unter «Schmäh» eine Form von Beschimpfung verstehen, gilt er in Wien als «Charme», als Umgangsform – der Schmäh gilt aber auch als hintergründig, indirekt und voller versteckter Anspielungen, oft auch als schwarzer Humor. Warum sollen wir genau Tauben vergiften im Park lustig finden? Georg Kreisler beantwortet uns mit seinem Lied zwar die Frage nicht, führt uns aber in das Reich dieser Zweideutigkeit ein. 

Das heute oft abgegriffene Klischee des goldenen k. u. k.+ -Images (königlich-kaiserlich) und seiner zum Kitsch verkommenen Walzer-Industrie, inklusive Sissi-Idylle, wird Wien als Musikwelthauptstadt nicht gerecht. Es ist das goldene Zeitalter der Wiener Klassik mit Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert, dem Biedermeier und seinen Initiativen und Gründungen des damaligen Bürgertums von noch heute führenden Institutionen wie dem Wiener Musikverein und den Philharmonikern, sowie den Titanen im späten 19. Jahrhundert wie Bruckner, Brahms und Mahler. Diesen ist die bis heute andauernde Bedeutung von Wien als Musikmetropole zu verdanken.

In über 65 Konzerten in der Zeit vom 15. Juli bis zum 3. Sept. 2022 laden wir Sie ein, diesen musikalischen Pfaden Wiens durch die Jahrhunderte zu folgen. 

Wir heissen Sie zum 66. Gstaad Menuhin Festival & Academy herzlich willkommen! 

Christoph Müller, Artistic Director